"Menschen können plötzlich verschwinden"

Seit einiger Zeit lese ich nur noch berufliche Texte & Veröffentlichungen, für die Literatur, die ich früher so gerne gelesen habe, fehlt mir die "Zeit" (= keine Lust mehr). Allerdings höre ich noch Hörbücher und so bin ich nicht ganz abgehängt vom literarischen Betrieb. 

In den vergangenen Tagen habe ich ein Hörbuch gehört von Judith Hermann: Alice, das meine momentane Stimmung und Traurigkeit gut getroffen hat.
"Wenn jemand geht, der dir nahe ist, ändert sich dein ganzes Leben, es ändert sich, ob du willst oder nicht. Alles wird anders. Alice ist die Heldin dieser fünf Geschichten, alle erzählen von ihr – und davon, wie das Leben ist und das Lieben, wenn Menschen nicht mehr da sind. Dinge bleiben zurück, Bücher, Briefe, Bilder,"  (Auszug aus der Beschreibung bei Amazon)

Sie beschreibt ganz nüchtern (für manche Rezensenten, zu oberflächlich distanziert) für mich aber treffend die Situation wenn der Mensch, den man liebt, ganz plötzlich verstirbt. Die Personen in ihren 5 Erzählungen verlieren den Partner anhand unterschiedlicher Todesursachen Krebs, Herzversagen, Selbstmord. Allen Zurückgelassenen ist gleich, dass sie damit fertig werden müssen, dass diese Menschen plötzlich verschwunden sind, ein Riesen-Loch hinterlassen haben und die Psyche in eine Art Starre kommt, in der man agiert aber gleichzeitig hilflos ist, wie man dieses Loch überwinden soll.
All die Gegenstände, die bleiben und Erinnerungen und Wehmut auslösen. Man sortiert was an Erinnerung bleiben soll, was weg kann, weil es nichts über den Verstorbenen aussagt, sondern halt ein Gebrauchsgegenstand war. Es gibt Dinge, die nur im Zusammenhang, mit diesem einen Menschen eine Bedeutung haben (z.B. verschenkt Alice ihr Auto, das sie nur im Zusammenhang mit ihrem Mann benötigte). Man handelt automatisiert, geht an Orte an denen der geliebte Mensch in der Kindheit war (Alice geht ins Schwimmbad), trifft sich mit Menschen aus der Vergangenheit des geliebten Menschen, alles um das Loch zu füllen, um dem Menschen, der sich in nichts aufgelöst hat, wieder ein bisschen Nahe zu sein. Sie gibt keine Antworten wie lange das dauert, eine der im Buch dargestellten Frauen lässt sie sagen, dass es 3 Jahre dauern soll, die andere Frau lässt quasi ihr Kleinkind am Friedhof aufwachsen, weil sie so oft mit ihm beim verstorbenen Vater ist.

Es gibt wohl auch keine allgemeingültige Zeitgrenze, nach der man dieses plötzliche Verschwinden versteht. Man lebt, wie der Freund ihres homosexuellen Onkels Jahrzehnte weiter, aber so richtig ist kein anderer Mensch mehr zu ihm durchgedrungen. Die (Liebes-)Briefe gibt er nach Jahrzehnten an die Nichte weiter, vielleicht ein loslassen.

Mich hat die nicht wertende, im Grunde emotionslose Beschreibung eines großen Verlustes sehr angesprochen, da ich viel von dem Beschriebenen nachempfinden kann. Es ist ein großer Unterschied ob ein Partner durch Trennung oder durch Tod geht. Beim Tod gibt es keinerlei zurück und keinen Neuanfang mehr. Es ist endgültig und von beiden Seiten ungewollt.

"Wer stirbt, der fehlt"

Mit  Wehmut sieht man Paare, die den anderen noch um sich haben, die kein Loch haben, das sie überwinden müssen. Man kämpft damit ein ganz normales Leben zu führen, da ja das ganz normale Leben gnadenlos weitergeht. Aber wie Alice bemerkt, lebt man gleichzeitig so intensiv wie  noch nie (so hat man weder vor noch nach der Überwindung des Lochs gelebt).  

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