Unsterblich - solange sich noch an einen erinnert wird
Meine Mutter wäre gestern 99 Jahre geworden, leider ist sie schon seit fast 27 Jahren tot. Das ist die Zeit, nach der die Gräber aufgelöst werden und selbst auf dem Friedhof nichts mehr an einen erinnert. Wenn es dann niemand mehr gibt, der einen kannte und noch lebt, dann ist man von dieser Erde genauso verschwunden, wie viele Generationen bereits vor uns.
Für meine Mutter waren Enkel das ewige Leben (= Weiterleben). Aber ich muss sagen, als Enkelkind erinnere ich mich nicht an die Eltern meines Vaters sowie an den Vater meiner Mutter. Alle sind vor meiner Geburt oder bevor ich überhaupt bewusst etwas wahrgenommen habe gestorben. Diese Groß-Eltern sind Erzählungen meiner Eltern, sind Erzählungen von Kindern, die ihre Eltern liebten und halt auch nur einen kleinen Ausschnitt aus deren Leben kannten. Sie waren fern für mich, man verglich unsere Charaktere und war plötzlich "wie die Großmutter oder der Großvater", meist wurde das in einem vermeintlich negativem Zusammenhang gebraucht, weshalb man den Vorfahren gegenüber sehr misstrauisch war. Da mein Vater 49 Jahre alt war als ich geboren wurde und wir uns nie über die Namen sowie die Geburtsdaten meiner Großeltern unterhalten hatten, weiß ich noch nicht mal wie meine Großmutter mit Vornamen hieß geschweige denn wann sie geboren wurde. Das Geburtsdatum meines Großvaters weiß ich auch nur, über unseren amerikanischen Freund Henry, der dies aus alten Militärakten herausholen konnte (mein Großvater war Luftschiffer im Ersten Weltkrieg, also einem Krieg, der vor über Hundert Jahren bereits zu Ende war). Lange Rede kurzer Sinn, die Eltern meines Vaters leben nie in meiner Erinnerung, um so wichtiger ist es mir über meine Mutter zu reden, sie darf nicht in Vergessenheit geraten. Meine Kinder kennen sie nicht, für sie ist sie und mein Vater genauso abstrakt, wie für mich meine väterlichen Großeltern es waren.
Meine Mutter kam aus einem kleinen Dorf ca. 30 km vor Breslau. Der Vater war Stellmacher und Bauer, er war einer der wichtigen Personen im Dorf, meine Mutter meinte, dass er sich auch als "Architekt" im Dorf betätigte. Meine Mutter war das mittlere Kind, sie hatte 6 Geschwister. Von meiner Großmutter erzählte sie, dass diese lieber aufs Feld ging als sich um die Kinder zu kümmern, die hätte sie ganz gern den Dienstmädchen überlassen. Trotz der Feldarbeit achtete sie darauf, die helle Haut der vornehmen Damen zu behalten und predigte uns Enkelkindern, dass man sich nicht der Sonne aussetzen solle, immer darauf zu achten hätte, dass alle Körperteile bedeckt sind. Wenn Sie arbeitete trug sie immer ein Kopftuch in die Stirn gezogen, sie benutzte auch den Regenschirm als Sonnenschutz. Sie versuchte ihren Kindern die "feine Lebensart" beizubringen, z.B. durfte meine Mutter durfte zusammen mit ihrer Cousine Klavierspielen lernen. Im Dorf gab es nur eine Schule, in der alle Schüler gemeinsam unterrichtet wurden und mit 14 war die Schulzeit beendet. Danach lernten die Jungs ein Handwerk, die Mädchen gingen in Stellung. Das machte meine Mutter auch und ging in den Ratskeller in Neumarkt, um dort in der Küche zu arbeiten. Die Trennung von Zuhause, vor allem von ihrem Vater, war wohl am Anfang schwer. Nach einigen Jahren wechselte sie nach Breslau. Ihre Schwester war dort in einem angesehenen Cafe Köchin und meine Mutter arbeitete wieder als Küchenhilfe. Irgendwie hat meine Mutter nie eine Ausbildung gemacht, ihre Schwestern waren Köchin, Schneiderin und Krankenschwester, sie war immer Hilfskraft. In Breslau lernte sie dann auch den Vater meines Bruders kennen. Bei einer gemeinsamen Reise in die Vergangenheit meiner Mutter, erfuhr ich dass er aus einer sehr angesehenen Bäckerei in Breslau stammte und meine Mutter als unpassende Partie betrachtet wurde. Mein Bruder wurde 1941 geboren, Breslau war immer von Bombenangriffen bedroht und so gehörte er zu den Kindern, die aufs Land in diesem Fall zur Großmutter, geschickt wurden. Meine Großmutter organisierte im Februar 1945 mit Hilfe ihrer Eisenbahner-Schwiegersöhne die Flucht. Mit ihren Töchtern, Enkelkindern und dem jüngsten Sohn (meinem Lieblingsonkel) stand das Grüppchen im Februar 1945 vor Dresden und wunderten sich, weshalb der Zug keine Einfahrt nach Dresden bekam, welch ein Glück, denn so sind sie der Vernichtung bei der Bombadierung von Dresden entgangen.
Per Zufall ist das Grüppchen in Schwarzenbach/Saale aus dem Zug ausgestiegen, um dort fortan als Flüchtlinge zu leben. Meine Mutter zog weiter zum Vater meines Bruders, der inzwischen in Norddeutschland in Carby bei Eckernförde lebte. Dort arbeitete sie in einer Fischfabrik. Die Ehe zerbrach nach wenigen Jahren und meine Mutter zog mit meinem Bruder zurück zu ihrer Mutter/Familie nach Bayern. Hier arbeitete sie in einer Porzellanfabrik, lernte meinen Vater kennen und zog mit ihm nach Baden-Württemberg. In Stuttgart wurde ich geboren. Wir waren eine zusammengewürfelte Familie, neben meinem Bruder lebte noch ein Cousin bei uns. Da mein Vater meiner Mutter viel zu wenig Haushaltsgeld gab, fing meine Mutter wieder an zu arbeiten. Um meine Betreuung als Kleinkind sicher zu stellen, arbeitete sie abends als Putzfrau bei der Fa. IBM. So hat sie meinen Bruder schließlich bei IBM untergebracht, der Betrieb in dem mein Bruder sein ganzes Arbeitsleben verbrachte. Als ich größer wurde und in Böblingen das Kaufhaus Hertie eröffnet wurde, ergriff meine Mutter die Chance und wechselte in die Kantine. Leider gab es dort eine Köchin, der meine Mutter ein Dorn im Auge war und so wurde meine Mutter versetzt in den Lebensmittelverkauf. Damit hatte sie Glück im Unglück gehabt, denn endlich war sie in dem Arbeitsbereich angekommen, der sie erfüllte. Man sieht, dass sie immer gearbeitet hat und damit auch immer unabhängig von ihren Männern war, dementsprechend hat meine Mutter sehr selbstbestimmt gelebt. Als mein Vater im Alter wieder in seine Heimat zurückziehen wollte, ist meine Mutter nicht mitgezogen und ist in Böblingen geblieben. Meine Eltern führten fortan (in den 1970iger Jahren) die moderne Form der Ehe "living apart together". Sie besuchten sich gegenseitig, aber jeder lebte dort, wo er/sie sein wollte. Mein Vater starb zu dem Zeitpunkt, als meine Mutter ihn gerade mal wieder besuchte.
Meine Mutter war eine sehr humorvolle Frau, die zu allen in der Familie Kontakt hielt, die Probleme mit der Rechtschreibung hatte, manchmal Wörter verdrehte, was sehr lustig war. Sie war sehr lebenspraktisch, Probleme wurden nüchtern betrachtet und als Therapie half immer einfach nur arbeiten. Erst als meine Mutter ihren ersten Herzinfarkt hatte, wurde sie etwas mutlos, es war zu einer Zeit in der es bei mir auch nicht weiterzugehen schien. Also haben wir beide uns gegenseitig aus dem emotionalen Sumpf gezogen und jede ist dann ihren Weg weiter gegangen. Eng verbunden waren wir aber immer, wir konnten uns immer gegenseitig trösten und stützen, wenn es einer mal nicht so gut ging. Wir konnten miteinander lachen, besuchten uns gegenseitig. Sie gab mir wertvolle Tipps, nahm aber auch Ratschläge von mir an. Sie kam mit meinem schwierigen Mann klar, mochte ihn sogar und machte sich mehr Sorgen um ihn wie seine eigene Mutter.
Meine Mutter war einfach eine tolle Frau, die ihr durch die Zeitgeschichte nicht einfaches Leben, so selbstbestimmt wie möglich gelebt hat, die keine Sündenböcke brauchte, Freude am Leben und am Essen hatte. Ihre Kinder liebevoll versorgt, aber nicht verwöhnt hat und vor allem dafür gesorgt hat, dass wir zusammenhalten, weit über ihren Tod hinaus. In Zeiten in denen ich mich von allen verlassen fühle, ist meine Mutter immer noch da und tröstet mich, liebt mich bedingungslos. Ich denke, dass diese Liebe meiner Eltern mit der größte Schatz meines Lebens ist.
Für meine Mutter waren Enkel das ewige Leben (= Weiterleben). Aber ich muss sagen, als Enkelkind erinnere ich mich nicht an die Eltern meines Vaters sowie an den Vater meiner Mutter. Alle sind vor meiner Geburt oder bevor ich überhaupt bewusst etwas wahrgenommen habe gestorben. Diese Groß-Eltern sind Erzählungen meiner Eltern, sind Erzählungen von Kindern, die ihre Eltern liebten und halt auch nur einen kleinen Ausschnitt aus deren Leben kannten. Sie waren fern für mich, man verglich unsere Charaktere und war plötzlich "wie die Großmutter oder der Großvater", meist wurde das in einem vermeintlich negativem Zusammenhang gebraucht, weshalb man den Vorfahren gegenüber sehr misstrauisch war. Da mein Vater 49 Jahre alt war als ich geboren wurde und wir uns nie über die Namen sowie die Geburtsdaten meiner Großeltern unterhalten hatten, weiß ich noch nicht mal wie meine Großmutter mit Vornamen hieß geschweige denn wann sie geboren wurde. Das Geburtsdatum meines Großvaters weiß ich auch nur, über unseren amerikanischen Freund Henry, der dies aus alten Militärakten herausholen konnte (mein Großvater war Luftschiffer im Ersten Weltkrieg, also einem Krieg, der vor über Hundert Jahren bereits zu Ende war). Lange Rede kurzer Sinn, die Eltern meines Vaters leben nie in meiner Erinnerung, um so wichtiger ist es mir über meine Mutter zu reden, sie darf nicht in Vergessenheit geraten. Meine Kinder kennen sie nicht, für sie ist sie und mein Vater genauso abstrakt, wie für mich meine väterlichen Großeltern es waren.
1955 Hochzeitsreise meiner Eltern in die Schweiz |
Hochzeitsreise meiner Eltern |
Meine Mutter war eine sehr humorvolle Frau, die zu allen in der Familie Kontakt hielt, die Probleme mit der Rechtschreibung hatte, manchmal Wörter verdrehte, was sehr lustig war. Sie war sehr lebenspraktisch, Probleme wurden nüchtern betrachtet und als Therapie half immer einfach nur arbeiten. Erst als meine Mutter ihren ersten Herzinfarkt hatte, wurde sie etwas mutlos, es war zu einer Zeit in der es bei mir auch nicht weiterzugehen schien. Also haben wir beide uns gegenseitig aus dem emotionalen Sumpf gezogen und jede ist dann ihren Weg weiter gegangen. Eng verbunden waren wir aber immer, wir konnten uns immer gegenseitig trösten und stützen, wenn es einer mal nicht so gut ging. Wir konnten miteinander lachen, besuchten uns gegenseitig. Sie gab mir wertvolle Tipps, nahm aber auch Ratschläge von mir an. Sie kam mit meinem schwierigen Mann klar, mochte ihn sogar und machte sich mehr Sorgen um ihn wie seine eigene Mutter.
Meine Mutter war einfach eine tolle Frau, die ihr durch die Zeitgeschichte nicht einfaches Leben, so selbstbestimmt wie möglich gelebt hat, die keine Sündenböcke brauchte, Freude am Leben und am Essen hatte. Ihre Kinder liebevoll versorgt, aber nicht verwöhnt hat und vor allem dafür gesorgt hat, dass wir zusammenhalten, weit über ihren Tod hinaus. In Zeiten in denen ich mich von allen verlassen fühle, ist meine Mutter immer noch da und tröstet mich, liebt mich bedingungslos. Ich denke, dass diese Liebe meiner Eltern mit der größte Schatz meines Lebens ist.
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